Als ich zum ersten Mal Bilder von Canfranc sah, war ich sehr fasziniert. Ein Bahnhof dieser Größe in einem abgelegenen Tal der Pyrenäen, quasi am Ende der Welt – das war schon etwas Besonderes. Nachdem ich anfing, mich mit dem Sujet intensiver zu beschäftigen, beeindruckte mich zudem der visionäre Gedanke, der dem Projekt zugrunde lag und dem europäischen Gedanken der heutigen Zeit weit voraus war. Es erschien mir unvorstellbar, dass die Vision einiger weniger Personen des neunzehnten Jahrhunderts so eine Anlage anstoßen konnte, in einer Zeit, als der Nationalismus in Europa erst richtig aufkam.
Ich bin immer gerne auf Bahnhöfen gewesen. Das Kommen und Gehen und der Betrieb der Fahrzeuge begeisterten mich sehr, oft verbunden mit dem leicht schmerzhaften Gefühl des Fernwehs. In meiner Jugend war ich als Eisenbahnfan oft auf verschiedenen Bahnstrecken und diversen Bahnanlagen unterwegs. Aber die Faszination angesichts der Bilder dieses Bahnhofs in den Pyrenäen ging viel weiter. Der Reiz ging auch von der enormen Größe aus und weckte den Architekturfotografen in mir. Die fotografische Beschäftigung mit Gebäuden war ja mein berufliches Lieblingsthema. So erschien es mir äußerst reizvoll, einmal im Leben eine solche Anlage zu fotografieren. Aber nüchterne Geschäftszahlen rückten ein nicht-kommerzielles Projekt stets in den Bereich der Fantasie und Wunschträume.
Bis ich mit einem Kollegen und Freund darüber sprach. In diesem Gespräch benutze ich die Formulierung: …“Eigentlich müsste man einmal hinfahren und bessere Bilder machen….!“ Im gleichen Moment wurde mir klar, dass mir in diesem Augenblick den Auftrag für eine freie, fotografische Arbeit gegeben hatte. Wer würde mich hindern, diese Aufnahmen tatsächlich Wirklichkeit werden zu lassen, wenn nicht ich selbst? Indem ich gleichzeitig den Kollegen mit dem Canfranc-Virus angesteckt hatte, gingen wir gemeinsam ans Werk und planten die Fahrt nach Spanien. Mit vielen Eindrücken und wunderschönen Bildern kamen wir nach zehn Tagen zurück.
In der Zeit nach der Fahrt erlebte ich in meinen Träumen, wie sehr mich Canfranc gepackt hatte. Das wiederkehrende Muster dieser Träume waren die Innenräume, die wir beim Besuch im ersten Jahr nicht hatten betreten können und die meine Fantasie ungeheuer beflügelt hatten. Immer wieder ging ich durch zuvor nicht entdeckte Räume und erlebte den Bahnhof meist in Betrieb, also mit grenzüberschreitendem Zugverkehr. All das wurde durch die erste, kleine Ausstellung der Bilder in den Räumen meines eigenen Fotostudios noch verstärkt. Und auch heute noch fahren manchmal im Traum die Züge am Bahnhof in Canfranc….
In den Folgejahren fuhr der zwischenzeitlich ebenfalls infizierte Freund und Kollege Stefan Gregor mit nach Spanien. Wir konnten nicht mehr aufhören, an Canfranc zu denken und neue Details wahrzunehmen. Es war verblüffend und gleichzeitig deprimierend, dass bereits manche unserer Bilder, im Abstand von nur einem Jahr aufgenommen, den raschen Verfall zeigten und durch das Fehlen von Gegenständen der früheren Ausstattung zu historischen Dokumenten wurden. Für mich war es bereits so, dass ich mich auf den Straßen von Canfranc zuhause fühlte, so vertraut war mir der Ort geworden. Gleichzeitig war mir auch klar, dass es irgendwann einmal den Moment geben würde, an dem das letzte Bild aufgenommen sein würde. Dann wäre der fotografische Teil des Projekts beendet. Diesen Moment erlebte ich im Jahr 2000, in dem die wenigen, letzten Aufnahmen entstanden sind.
Die Fotos waren nicht von Anfang an als Teil eines auf Dauer angelegten Projekts mit klarer Zielsetzung entstanden. Und doch merkte ich, dass ich mit den Fotos zunehmend ein Ziel verfolgte, welches mir wichtig geworden war. Es ging darum, auf den historischen Wert des Gebäudes aufmerksam zu machen und es vor dem endgültigen Niedergang und Verfall zu bewahren. Dies hofften wir mit erhöhter Wahrnehmung unserer Bilder in der Öffentlichkeit erreichen zu können. So realisierten wir diverse Ausstellungen, mit denen viel Aufmerksamkeit und positive Resonanz erreicht wurde, jedoch ohne den erhofften, nachhaltigen Erfolg. Eine Ausstellung zum Beispiel fand in Canfranc zum Jahrestag der Inbetriebnahme des Bahnhofs statt, eine Andere in Straßburg in den Räumen des Europäischen Parlaments.
Es war unserer Wunsch, durch die Veröffentlichung der Fotos als Buch das Projekt zu vollenden. Dieses Ziel haben wir bislang nicht erreichen können, denn die Herstellung von solchen Bildbänden in der angemessenen Qualität ist für Verlage dank der Digitalisierung unrentabel geworden. Es spukt zwar noch immer in meinem Hinterkopf, aber ich bin Realist. Und es ist wirklich schade, denn auch die Gegenüberstellung der Bildstrecken aus fotografischer Sicht ist äußerst spannend: Meine Aufnahmen aus der Sicht des Architekturfotografen, in Schwarzweiß mit der 4×5“-Fachkamera gemacht, stehen den farbigen Aufnahmen eines aus der Reportagefotografie kommenden Fotografen, der mit der Kleinbildkamera als Werkzeug arbeitet, gegenüber.
Fotografisch ist das Projekt abgeschlossen, die Bilder von 2010 und 2017 zeigen den aktuellen Zustand, der die Fortführung des Projektes sinnlos macht. Und die für mich wichtigen Bilder habe ich gemacht. Vielleicht gibt es in der Zukunft wieder vermehrt Interesse, die Bilder im Original im Rahmen einer Ausstellung zu sehen. Dann gibt es auf diesen Seiten eine Information darüber. Und vielleicht wird es irgendwann einmal ein Buch mit diesen Bildern geben, das ist noch nicht sicher. Sicher ist jedoch das Herzklopfen, welches mich jedes Mal überrascht, wenn ich mich Canfranc mit dem Auto nähere. Weil mein Herz noch immer für den Bahnhof schlägt. Und so dazu beiträgt, dass ich immer wieder hinfahre. Die Bilder auf diesen Seiten sollen davon erzählen.
© Matthias Maas 2019