Die Geschichte war schon immer eine Lehrmeisterin. Es gibt immer wieder Beispiele, bei denen ein zukunftsträchtiges und ehrgeiziges Ziel durch kleinstaatliches Denken, persönliche Animositäten, massive Privatinteressen, Rivalität oder Inkompetenz scheitert. Und Canfranc ist ein gutes Beispiel. Das spannende Projekt mit dem für seine Zeit im Grunde revolutionären, europäischen Gedanken wurde durch Fehlentscheidungen und kleinliche Interessen zum Scheitern verurteilt.

Im Jahr 1853 hatte Bankdirektor Juan Bruil aus Zaragoza die Idee, eine Bahnverbindung über die Zentralpyrenäen als kürzeste Verbindung zwischen Madrid und Paris zu schaffen. Seinen 30-seitigen Vorschlag unterbreitete er den “Freunden des Landes”, einem Club einflussreicher Unternehmer. An Weihnachten des gleichen Jahres erhielten zwei Ingenieure ein besonderes Geschenk: Sie sollten die ersten Planungen für das Projekt erstellen. Damit begann der endlose Streit um die beste Streckenführung und der Kampf der Repräsentanten von Städten und Provinzen, die Vorteile aus den Plänen ziehen wollten. Fast dreißig Jahre dauerte es, ehe die Regierung 1882 das Projekt bewilligte.

Fünfzehn Jahre beobachteten Experten das Wetter, ehe sie sich auf das Tal des Aragón und Canfranc als Standort für den Grenzbahnhof und das südliche Ende des Tunnels einigten. Technische Probleme und diplomatische Schwierigkeiten kennzeichneten die Entwicklung des Bauprojekts; so kam es immer wieder zu Baustopps und Verzögerungen. Unlösbar war anfangs das Problem, einen Tunnel mit derartiger Länge durch die Pyrenäen zu bauen. Im Jahr 1915 wurde dann der 7875 Meter lange Tunnel vollendet. Mit den Steinen, die aus dem Berg geholt wurden, schufen die Erbauer ein künstliches Plateau, auf dem das gewaltige Bahnhofsgebäude errichtet wurde, stilistisch eine Mischung aus Klassizismus und Jugendstil.

“Es gibt keine Pyrenäen mehr”, soll König Alfonso XIII. von Spanien stolz ausgerufen haben, als er im Sommer 1928 im Beisein von General Primo de Rivera und dem Präsidenten der französischen Republik, Gaston Doumergue, die Linie und den prächtigen Bahnhof eröffnete. Nach über 70-jähriger Planungs- und Bauzeit war das Projekt doch noch Wirklichkeit geworden. Natürlich erhofften sich die Menschen in dem kargen Gebirgstal ein kleines Stück vom Wohlstand und dem wirtschaftlichen Aufschwung, der mit der Verwirklichung der durchgehenden Bahnstrecke zu erwarten war. Sicherlich weckte auch der Luxus, der durch das Hotel entstanden war und der auch Gäste aus ganz Europa erwarten ließ, Begehrlichkeiten und den Wunsch daran teilzuhaben.

Doch mit der Weigerung der spanischen Regierung, die Spurweite der eigenen Eisenbahn an den europäischen Standard anzupassen und die Strecke zu elektrifizieren, wurde bereits beim Bau der Linie der Keim zum Scheitern des Projekts gelegt. Denn nun war bei jeder Fahrt ein Zwischenhalt in Canfranc erforderlich, in dessen Verlauf der Zug gewechselt werden musste. Eine Seite des Gebäudes war mit der spanischen Spurweite, die andere mit der französischen Spurweite versehen, und die Länge der Züge erforderte somit einen Bahnhof mit dieser beachtlichen Länge. Jeder Passagier musste durch die Passkontrolle im Bahnhof, jedes Gepäckstück durch den Zoll, alle Güter wurden mit dem Kran von einem in den anderen Zug gehoben. Bald stellte sich heraus, dass der Zeitverlust in Canfranc die Strecke für Fuhrunternehmer unrentabel machte. Nur acht Jahre nach der Eröffnung wurde der Somport-Tunnel, der den Pyrenäenfels durchschneidet und Frankreich mit Spanien verbindet, wegen des spanischen Bürgerkrieges zeitweise geschlossen.

Nach Ende des Bürgerkriegs wurde der Verkehr wieder aufgenommen. In der Zeit des zweiten Weltkrieges erlangte Canfranc wieder Bedeutung: Heute ist gesichert, dass über diese Linie Wolfram-Erz, für die Waffenherstellung dringend gebraucht, ins Deutsche Reich geliefert wurde. Im Gegenzug wurde Gold als Bezahlung auf die Iberische Halbinsel transportiert, das zum einen Teil aus erbeuteten Beständen der europäischen Zentralbanken stammte, zu anderen Teil auch aus „Beute“ stammte, die man während der Judenverfolgung durch Enteignung und Vernichtung machte.

Die Linie wurde auch als Fluchtweg wichtig, zunächst einmal für Juden und politisch Verfolgte, zum Beispiel Max Ernst, der in seiner Biografie über die Ankunft in Canfranc schreibt. Im unserem Gästebuch gibt es den Eintrag eines Mannes, der damals mit seiner Familie über Canfranc geflohen ist. Über die damaligen Zustände beim lebenswichtigen Versuch, den Einflussbereich der Nazi-Diktatur zu verlassen, gibt es erschütternde Berichte. Ich empfehle in diesem Zusammenhang die Lektüre der Bücher von Varian Fry und Lisa Fittko zu diesem Thema. In den Zeiten der Reise- und Visafreiheit innerhalb der europäischen Union sind mir diese Umstände unvorstellbar und nur noch schwer zu verstehen.

Mit der Besetzung Vichy-Frankreichs durch das Deutsche Reich war auch deutsches Militär auf dem Bahnhof in Canfranc präsent. Gleichzeitig nahmen die Tätigkeiten verschiedener Geheimdienste rund um den Bahnhof erheblich zu. Und auch die Hilfe des Chefs des französischen Zolls ist dokumentiert. Er hat Verfolgte beim Versuch zu flüchten unterstützt, um in Spanien unterzutauchen, auf dem Weg in die sichere Freiheit. Zudem gab er Informationen an die Botschaften der Alliierten in Madrid weiter und stand in Verbindung mit Mitgliedern der französischen Resistance.

Später nutzten dann auch flüchtende Nazis die Bahnlinie und den Tunnel auf dem Weg nach Südamerika. Nach dem Krieg durch Franco nochmals für kurze Zeit geschlossen, erlangte Canfranc noch einmal gewisse Bedeutung, zum Beispiel auch als Hintergrund für den Film „Doktor Schiwago“, dessen Bahnhofsszenen dort gedreht wurden. Als 1970 auf der französischen Seite der Bahnlinie ein abwärts fahrender, voll beladener Zug entgleiste und dabei auch die Eisenbahnbrücke von Estanguet einstürzte, war dies das Ende für den internationalen Bahnverkehr.

Seit dieser Zeit verfällt die gesamte Anlage, langsam aber sicher. Die spanische Eisenbahn hielt sich auch weiterhin an die vertragliche Verpflichtung und hielt den Betrieb aufrecht. Aber die Gleise, die französische Spurweite hatten, wurden nicht mehr genutzt. Auch der Transport von Waren entfiel, wodurch auch die Einrichtungen zum Umladen dem Verfall preisgegeben wurden. Durch den nur noch eingeschränkten Nutzen des Bahnhofs floß nicht mehr genug Geld für den Erhalt des Gebäudes und so ging es stetig bergab. Nachdem das Dach nicht mehr dicht war, drang Regenwasser ungehindert ein und zerstörte die Inneneinrichtung durch Nässe und Frost von innen. Exemplarisch zeige ich hier ein Bild, das die Treppe im Hotel und den Zustand im Winter zeigt. Und ich danke dem freundlichen Spanier, der es mir überlassen hat.

Als ich im Jahr 1996 zum ersten Mal in Canfranc war, hielt der dreiteilige Triebwagen direkt am Bahnhof und sorgte durch langes Laufenlassen der Motoren für einen unglaublichen Gestank nach Dieselabgasen. Damals gab es noch einen echten Bahnhofsvorsteher mit der roten Mütze und eine Zweigstelle der Post im Gebäude des Bahnhofs. Dazu bestanden noch Wohnmöglichkeiten im Obergeschoß des Gebäudes, die von eher wirtschaftlich und sozial schwachen Menschen in Anspruch genommen wurden. So gab es an den Fenstern noch Wäscheleinen, auf denen die Wäsche im leichten Wind der Pyrenäen flatterte.

Inzwischen gibt es die Post nicht mehr, sie ist in besser erhaltene Räume im Ort abgewandert. Das ehemals verschlossene Büro des Bahnhofschefs, das wir im Jahr 1997 fotografieren durften, war bereits im Folgejahr durch Vandalismus zerstört worden. Bald darauf gab es keinen Bahnhofsvorsteher mehr und der Triebwagen war auch nur noch einteilig. Dann wurde auf der Seite zur Straße hin ein neuer Bahnsteig für den einteiligen Zug gebaut. Der Bahnhof wurde eingezäunt und alle Türen mit Holzbrettern vernagelt. Jetzt fahren noch zweimal am Tag Züge von Zaragoza nach Canfranc und zurück. Die Nutzung durch Gäste mag im Winter beachtlich sein, wenn die Skisaison läuft. Im Sommer jedoch ist der Zug ziemlich leer, obwohl die Strecke trotz ihres Zustandes ziemlich spektakulär ist.

Immer wieder wird über die erneute Inbetriebnahme der Linie gesprochen. Ich erinnere mich noch an die Worte der EU-Kommissarin Loyola de Palacio während der Eröffnung unserer Ausstellung im Europäischen Parlament, als sie die Wiederinbetriebnahme der Strecke für 2006 in Aussicht stellte. Das ist viele Jahre her, passiert ist seither, trotz vielerlei Bemühungen, nicht viel. Auf französischer Seite ist inzwischen die alte Linie bis Bedous wieder in Betrieb genommen worden. Aber es fehlt das letzte Stück. Und auch, wenn es einmal Wirklichkeit werden sollte, so ist die Zeit für den Bahnhof leider vorbei. Denn in Zeiten von moderner Technik und Umspuranlagen wird es sicher einen neuen Haltepunkt geben, der abseits des „Internationalen Bahnhofs von Canfranc“ liegen dürfte, wo es genug freie Fläche gibt.

Und so ist Canfranc ein Denkmal für frühen Pioniergeist, für visionäre Ideen und einen europäischen Gedanken in einer Zeit, als der Nationalismus erst richtig aufkam. Gleichzeitig auch ein Mahnmal für das Scheitern, bedingt durch enge Horizonte, Zögern und Rivalitäten.

© Matthias Maas 2019